3.4 Rückgang sozialer Sicherung für die Landbevölkerung
In Abwesenheit öffentlicher sozialer Sicherungssysteme
hat die asiatische Agrargesellschaft Verfahren entwickelt,
die zwischen den Ländern große Ähnlichkeit
aufweisen. Diese alten Verfahren bzw. Verhaltensweisen verflüchtigen
sich jedoch im Laufe zunehmender Entwicklung. Sie sind bereits
heute weniger wirksam und es ist mit einem schnellen Rückgang
der Sicherung in Zukunft zu rechnen. Folgende Verhaltensweisen
spielen noch eine Rolle, unterliegen aber zunehmender Ablösung:
- Landbesitz bedeutete in der Agrargesellschaft Sicherung,
da in einer subsistenznahen Lebensweise alle Bedürfnisse
direkt oder durch Tausch an dem Land erwirtschaftet werden
konnten. Dies schließt nicht nur die Existenzgrundlagen
ein, sondern in hohem Maß auch Folgen von Krankheit,
Unfall und Alter. Zwei Faktoren reduzieren die Sicherung
durch Landbesitz immer mehr: Die Verkleinerung der Betriebseinheit
hat vielfach ein Maß erreicht, welches keine ausreichende
Absicherung mehr gewährleistet. Außerdem ist
die Subsistenzwirtschaft von der Geldwirtschaft abgelöst
worden. Zum Leben sind heute nicht nur Wohnung und Nahrung
notwendig, sondern auch Bargeld.
Alte Formen sozialer Sicherung
verschwinden, Ersatz läßt auf sich warten |
- Landlose Bewohner der Landgebiete haben sich an Landbesitzer
gebunden und erhalten für Arbeitsleistungen einen Anteil
an der Agrarproduktion. Für viele - nicht alle - bestehen
neben den Arbeitsbeziehungen patriarchalische Beziehungen,
die Loyalität, Hilfeleistungen, Vertretung nach Außen
und Vertretung in Streitigkeiten einschließen. Diese
Beziehungen waren und sind einseitig verschoben, boten aber
doch eine Absicherung auf niedrigem Niveau. Der Grundbesitzer
mußte eine minimale Ernährung und Versorgung
sicherstellen, oder er verliert seinen Arbeiter. Mit der
Betriebsverkleinerung sind mehr und mehr Betriebe nicht
mehr in der Lage, diese Sicherungsleistung für Fremde
aufzubringen.
- Die Sitte verlangte, daß große Grundbesitzer
in Notfällen ihren Dorfbewohnern helfen, z.B. durch
Nahrung, wenn die Vorräte aufgebraucht waren, durch
Bezahlung von Arznei u.ä. Die Einhaltung dieser Fürsorgeregeln
war Voraussetzung dafür, daß die Dorfgesellschaft
die Grundbesitzer als Respektsperson und Führungskraft
anerkannt hat. Großgrundbesitzer sind heute fast verschwunden,
und die kleineren ‘progressive farmers’ sind
zu kapitalistischen Arbeitsbeziehungen übergegangen,
denen Fürsorge meist fremd ist.
- Sicherlich wirksamste soziale Sicherung war der Zusammenhalt
der Verwandtschaft auf verschiedenen Ebenen. Die direkte
Fürsorge wurde in der Kleinfamilie geleistet, wirtschaftliche
Unterstützung bot auch die erweiterte Familie. Diese
Art der Sicherung schloß nicht nur materielle, sondern
auch menschliche Fürsorge ein. Mit der Lockerung des
Familienzusammenhalts geht die Sicherung zurück. Oft
wird durch die starke Mobilität und räumliche
Trennung der Beteiligten auch eine Grenze gesetzt.
- Eine andere Form der Sicherung in der Agrargesellschaft
bestand in der Verpflichtung anderer Personen durch Leistungen.
Die Empfänger solcher Leistungen waren moralisch zu
Gegenleistungen bei Bedarf verpflichtet. Teilweise bestanden
ganze Netze von Gegenseitigkeitsverpflichtungen, die bei
Bedarf abgerufen werden konnten. Auch dieses Verfahren erfordert
räumliche Nähe und geht mit zunehmender Mobilität
zurück.
- Die zu Recht gescholtene Kinderarbeit beinhaltet einen
Teil sozialer Sicherung. Die Mitarbeit bei der Landarbeit
lehrte in der traditionellen Landwirtschaft den Kindern
die notwendigen Arbeiten und setzte sie schon in frühem
Alter instand, beim Tod des Vaters die Bewirtschaftung zu
übernehmen und die Existenz der Familie zu sichern.
Eine Teilnahme an der Dorfschule führt in der Agrargesellschaft
zu keiner vergleichbaren Sicherung.
All diese Absicherungen sind unvollkommen und dürftig.
Zusammen haben sie jedoch in vielen Fällen bewirkt, daß
Wechselfälle des Lebens wenn auch auf niedrigem Niveau
abgefangen werden konnten.
Zur Zeit gehen all diese traditionellen Sicherungen schnell
zurück, ohne daß neue Formen an ihre Stelle treten.
In den kommenden Jahren dürfte hier eine Lücke entstehen,
in der sich eine neue Form von Armut verbirgt.
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Zunehmendes institutionelles Vakuum auf dem Lande
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