3.3 Das Beispiel Südkorea

In Südkorea steht seit 1971 die Saemaul Undong (Neues-Dorf-Bewegung) im Mittelpunkt der entwicklungspolitischen Bemühungen der Regierung. Diese Bewegung basiert auf Grundgedanken des Community Development, wenn auch viele Einzelheiten vom Grundkonzept mehr oder weniger stark abweichen. Die Konzipierung der Saemaul-Bewegung ist vor einem zweifachen Hintergrund zu sehen.

a) Während der ersten beiden Fünfjahrespläne (1962-1971) lag die Betonung einseitig auf der Entwicklung der Industrie, während die Landwirtschaft völlig vernachlässigt wurde. Im Laufe der Zeit stellten sich die Nachteile dieser Entwicklungsstrategie immer deutlicher heraus: Die Nahrungsversorgung wurde zunehmend schlechter, der Masse der Bevölkerung fehlte die Kaufkraft, um die Produkte der Industrie abnehmen zu können. Als Folge der Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land (Bauern unter l ha (67 v. H.) verdienten 1970 weniger als 50 v. H. der städtischen Lohnempfänger) kam es zu einer rapiden Abwanderung und Verstädterung. Heute wohnen über 50 v. H. der Bevölkerung in den Städten. Da in erster Linie Frauen und Alte auf dem Lande zurückbleiben, wurde die Basis für eine Entwicklung der Agrargebiete immer schlechter.

b) Das Ziel der Regierung, das Land gegen einen möglichen militärischen Angriff von Nordkorea vorzubereiten, erfordert eine entsprechende geistige Einstellung der Bevölkerung, insbesondere ein Gefühl des Selbstvertrauens, der nationalen Integrität und der Zusammenarbeit zum Aufbau des Staates.

Die Saemaul-Bewegung wird daher auch als Ausbildungsprozeß für die Massen verstanden. Durch die nationale Modernisierungsbewegung soll die moralische Grundlage für die nationale Entwicklung gelegt werden. Drei Elemente sollen zu diesem Ziel führen:

a) Geistige Aufklärung (spiritual enlightenment)
(Erziehung zu Fleiß, Selbsthilfe, Zusammenarbeit und Gemeinschaftsgefühl),

b) Soziale Entwicklung
(Besseres, moralisch gesundes Leben für alle Angehörigen der Gemeinschaft, jedoch nicht auf Kpsten anderer),

c) Wirtschaftliche Entwicklung
(Nachhaltige Einkommenserhöhung und Besserung der Lebensumwelt als
Grundlage nationaler Stärke).

Getreu den Grundgedanken des Community Development wird die Zusammenarbeit der Bevölkerung/als Grundlage zum Erreichen dieser Ziele angesehen. Um die Effizienz der Aktivitäten der Bevölkerung zu erhöhen, gewährt der Staat finanzielle und technische Unterstützung.
Die Saemaul-Bewegung wurde eingeführt, ohne daß zu Beginn ein wohl definierter theoretischer Rahmen existiert hätte. Entsprechend kam es im Laufe der Zeit auch zu vielen Anpassungen aufgrund der gemachten Erfahrungen. Beibehalten wurde jedoch ein Schritt-für-Schritt-Vorgehen, wobei jeder Schritt erst dann eingeführt wurde, wenn die Bereitschaft und Fähigkeit bei der Bevölkerung entsprechend entwickelt waren.

Der erste Schritt besteht in einer Verbesserung der Lebensumwelt, also der Häuser und Dörfer (Ersatz der Strohdächer durch moderne Dächer, Verbesserung von Küchen, Toiletten, Bädern, Einführung von Elektrizität, Dorfverschönerung u. ä.). Während dieser Stufe liegt die Betonung auf für jeden sichtbare Maßnahmen, die sofort spürbar sind, weniger dagegen auf der Änderung der Produktionsbasis. Auf diese Weise soll der Bevölkerung deutlich werden, daß durch gemeinsame Arbeit ein Ziel erreichbar ist, und so das Erziehungsprogramm zu Selbstvertrauen und Hoffnung unterstützt werden. Dabei berücksichtigt man, daß diese Projekte von Witterung und Marktentwicklung unabhängig sind, also kaum Enttäuschungen und Fehlschläge zu erwarten sind, die den Enthusiasmus zu frühem Erlahmen bringen würden.

Der zweite Schritt besteht in einem Ausbau der wirtschaftlichen Infrastruktur (Straßen, Wege, Brücken, Bewässerung, Lagerhäuser, usw.)- Mit diesen Projekten, die auch noch zur Verbesserung der Lebensumwelt beitragen, wird die Grundlage für einkommenswirksame Maßnahmen gelegt.

Der dritte Schritt besteht in einkommenserhöhenden Maßnahmen. Hierzu zählen gemeinschaftliche Landbewirtschaftung, Maschinengemeinschaften, Aufforstung, gemeinsame Produktion von Sonderkulturen, Industrialisierung u. ä. Als Anfangsexperiment erhielten im Jahre 1971 alle 34000 Dörfer je 335 Sack Zement, um damit nach eigener Entscheidung die Umwelt ihres Dorfes zu verbessern. Die Ergebnisse waren recht unterschiedlich.

Im folgenden Jahr erhielten 16900 Dörfer, die Befähigung zu Selbsthilfe-Maßnahmen gezeigt hatten, je 500 Sack Zement und l Tonne Stahl. Dieser Differenzierungsprozeß zwischen den Dörfern ist inzwischen formalisiert worden. Jährlich werden die Dörfer nach bestimmten Kriterien in drei Stufen eingeteilt, nämlich

  • basic villages, für die Umweltverbesserungsmaßnahmen
    in Frage kommen,
  • self-help villages für die Infrastrukturmaßnahmen
    i vorgesehen sind,
  • self-reliance viljages, für die Maßnahmen zur Steigerung
    der Einkommen vorgesehen sind.

Das Ziel ist, alle Dörfer in die höchste Stufe zu überführen, wobei die Geschwindigkeit stark von der Eigenleistung abhängt.
Die Hauptaktivität liegt auf Dorfebene, wo auch die einzigen Funktionäre der Saemaul-Bewegung zu finden sind. Die Dorfgemeinschaft wählt ein Village-De-velopment-Council aus 15 Mitgliedern unter Leitung des Saemaul Leaders (dem eine Frau zur Seite steht). Dieses Council plant die Projekte und organisiert sowie überwacht ihre Ausführung. Alle Projekte bedürfen der Zustimmung der Generalversammlung des Dorfes. Darüber hinaus gibt es Beratungsgremien auf Myon-, County- und Provinzebene. Oberstes Organ ist das Central Consulta-tive Council unter Leitung des Innenministers, dem 16 Vize-Minister und 7 Leiter von oberen Regierungsbehörden angehören. Eine Planungsabteilung des Innenministeriums dient als Sekretariat. Diese Organisation sichert die Mitarbeit aller Behörden bei Saemaul-Aktivitäten. Mehr noch wird dies jedoch dadurch garantiert, daß die Regierungsspitze der Saemaul-Bewegung höchste Priorität zuerkennt.

In der Saemaul-Bewegung spielen Ausbildung und Schulungskurse eine große Rolle. Diese Kurse, an denen sowohl die Dorfführer, als auch Führungskräfte aus allen Teilen der Gesellschaft teilnehmen, bestehen weniger aus Vorträgen als in gegenseitiger Erörterung von Beispielen und Erfahrungen unter den Teilnehmern. Gruppengespräche sollen zur Selbsterkenntnis und Revision des eigenen Verhaltens führen. Die Kurse hämmern den Teilnehmern ein, nicht nur über Dinge zu reden, sondern sie auch wirklich zu tun. Besonders auf einfache Menschen scheint die Wirkung dieser Kurse groß zu sein.

Eine Beurteilung der Saemaul-Bewegung ist nicht einfach. Die bisherigen Veröffentlichungen bringen zwar viele einzelne Beispiele, aber doch wenig zu verallgemeinernde Fakten. Wissenschaftler haben wegen der politischen Komponente meist Abstand genommen, die Bewegung zu analysieren. Aus gleichem Grund ist auch bei Äußerungen der Dorfbevölkerung schwer zwischen Plan und Wirklichkeit zu unterscheiden. Immerhin lassen sich eine ganze Reihe von Erfolgen aufzählen.

a) Das Ziel einer Änderung der Einstellung der Landbevölkerung scheint zu einem guten Teil erreicht zu sein. Die Bauern haben erkannt, daß die Lebensbedingungen auf den Dörfern nicht unveränderbar sind und daß eigene Bemühungen vereint mit Unterstützung durch die Regierung merkliche Verbesserungen des Lebens bewirken können. Auch das nationale politische Bewußtsein scheint gerade bei der Landbevölkerung merklich entwickelt worden zu sein.

b) Die Beteiligung der Bevölkerung ist beachtlich. Bei Fahrten durch das Land trifft man wieder und wieder auf Kolonnen, die Erdarbeiten, Straßenbauten und ähnliche Gemeinschaftsarbeiten ausführen. Die Tatsache, daß die Selbstbeteiligung an den Projektkosten von 80 % im Jahre 1971 auf 43 v.H. im Jahre 1975 zurückgegangen ist, läßt sich teilweise auf die geänderte Art der Projekte bei höheren Entwicklungsstufen zurückführen. Schwierig zu beurteilen ist das Ausmaß des Zwangs, der dabei eine Rolle spielt. Anfangs war er sicherlich nicht klein. Inzwischen hat sich jedoch die Erkenntnis des Sinns gemeinsamer Bemühungen breit gemacht, und eine Konkurrenz zwichen Dörfern um größere Erfolge hat eingesetzt. Eine Rolle spielt auch eine kulturelle Eigenart Koreas: Besserung des Lebens der Gruppe, der man an gehört, ist Ziel des einzelnen, nicht so sehr persönliches Fortkommen. Die Familie verliert ihr Gesicht, wenn sich niemand an Dorfarbeiten beteiligt.

c) Die Ergebnisse der ersten Jahre haben bewirkt, daß das anfängliche Regierungsprogramm zu einer sozialen Bewegung geworden ist, bei der die Rolle der Regierung unterstützend und koordinierend ist. Wesentliche Initiativen und Forderungen kommen heute „von unten" (KiM, I. C., 1977).

d) Das Ziel der Einkommenssteigerung für die Landbevölkerung ist insoweit
erreicht worden, als erhebliche allgemeine Verbesserungen des Lebensstan
dards trotz Inflation erreicht und die Unterschiede zwischen Stadt und Land
mehr oder weniger aufgehoben wurden. Die landwirtschaftlichen Durch
schnittseinkommen liegen heute geringfügig über den städtischen Einkom
men. Dies wurde erreicht, ohne daß sich die bestehende Ungleichheit der nationalen Einkommensverteilung vergrößert hätte (BAN, S. H., 1977).

e) Die Lebensverhältnisse auf den Dörfern sind erheblich verbessert worden. Der Zustand der Häuser, die Trinkwasserversorgung, sanitäre Anlagen, Straßen usw., sind nicht mit dem früheren Zustand zu vergleichen. Auch auf dem Gebiete der Infrastruktur und der Produktionsbasis sind merkliche Fortschritte zu verzeichnen. Das technische Niveau der Landwirtschaft ist erheblich angehoben worden.

f) Beschäftigungspolitisch waren anfangs gute Erfolge zu verzeichnen. Die Unterbeschäftigten setzten ihre Arbeitskraft zur Verbesserung der Situation ihrer Dörfer ein und schufen so die Basis zu Mehrarbeit erfordernden Entwicklungen in der Landwirtschaft. Allerdings erwies sich dies als nicht von Dauer. Als nach einigen Jahren mit Infrastrukturverbesserungen lokale Projekte knapp wurden, sanken die zur Verfügung stehenden Beschäftigungsmöglichkeiten ab. Viele der als Ersatz geschaffenen Saemaul-Fabriken erwiesen sich als Fehlschlag. Bei gemeinschaftlichen Landbewirtschaftungsprojekten kam man in vielen Fällen von Gemeinschaftsarbeiten ab, weil die Beschäftigung weniger Lohnarbeiter sich organisatorisch als einfacher erwies. Die Abwanderung vom Lande ist daher kaum geringer geworden, obwohl die Lebensumstände auf dem Lande stark verbessert worden sind.

Die Unterschiede zwischen den Dörfern wurden wenigstens kurzfristig größer. Im Rahmen des Programms macht sich die Auswirkung unterschiedlicher Führungsqualität in den Dörfern stark bemerkbar. Auch die Verbindung der einzelnen Dörfer zu politischen Persönlichkeiten spielt oft eine nicht unwesentliche Rolle bei der materiellen Unterstützung. Viele Dörfer sind nach Anfangsprojekten auf eine Kooperation mit Nachbardörfern angewiesen, weil die notwendigen Maßnahmen über ihre Grenzen hinaus gehen. Dabei verlieren sie relativ an Einfluß auf Ausmaß und Geschwindigkeit ihrer Bemühungen um eine Besserung ihrer Lage, während übergeordnete Instanzen an Einfluß gewinnen. Die Regierung hat erhebliche materielle und immaterielle Investitionen in die Entwicklung der Agrargebiete vorgenommen. Diese Redistribution physischer, administrativer und psychologischer Ressourcen von städtischen auf die ländlichen Gebiete kann man als Ausgleich für die frühere Vernachlässigung ansehen. Es bleibt zu fragen, wie lange besonders die starke finanzielle Förderung anhalten kann, ohne die Inflation zu verstärken.

Letzteres hängt eng mit dem politischen Zweck der Saemaul Undong zusammen. Der hohe Einsatz wird mit der Schaffung notwendiger nationaler Verteidigungsbereitschaft begründet und gerechtfertigt. In den Augen mancher Kritiker ist Saemaul nur ein politisches Instrument zur Mobilisierung und Disziplinierung der Gesamtbevölkerung. Sicherlich ähnelt der straffe Aufbau der Bewegung einer Kaderorganisation. Die Bestimmung der Relation von politischen Zielen und Zielen der Verbesserung der Lebensverhältnisse ist vorwiegend unter politischen Gesichtspunkten zu sehen und einer wissenschaftlichen Beurteilung nur bedingt zugänglich. Bestehen bleibt der Eindruck, daß das Ausmaß der ländlichen Entwicklung in den wenigen Jahren den Vergleich zu allen asiatischen Ländern standhält, ja diese sicher übertrifft.