3.1 Das Beispiel Indien

Wohl kein anderes Land hat mit gleich hohem Aufwand an materiellen und personellen Ressourcen versucht, durch ein Community-Development-Programm die ländlichen Gebiete aus ihrer Stagnation herauszubringen. Im wesentlichen stimmt das dargestellte Grundkonzept mit dem überein, was in Indien ausgeführt wurde; teilweise wurde es erst dort entwickelt. Indische Community-Development-Bestrebungen gehen auf die Kolonialzeit zurück und wurden dann in Arbeitsweise und Organisation stark durch die Erfahrungen Albert MAYERS im Pilot Projekt Etawah (Uttar Pradesh) beeinflußt (MAYER, A. et al., 1959). MAYER stellte bei seiner 1948 beginnenden Arbeit drei gravierende Mängel in der Tätigkeit der indischen Behörden mit entwicklungspolitischer Bedeutung fest:

  • die existierenden Dienste der Ministerien haben keinen ausreichenden Kontakt mit der Dorfbevölkerung,
  • sie kennen die Realität der Lokalsituation nicht,
  • sie praktizieren bei ihren Arbeiten eine strenge fachministerielle Trennung, obwohl die Aufgabe eine Zusammenarbeit erfordert.

Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, wurde ein völlig neuer organisatorischer Apparat aufgebaut. Seine wichtigsten Bestandteile sind:

a) Der Village Level Worker als neuer Förderungsagent. Es handelt sich um einen neuen Dorfberater, der für alle Aufgaben im Rahmen des Community Development in seinem Dorf bzw. seiner Dorfgruppe zuständig war. Er verfügte über eine fachliche Ausbildung für alle relevanten Aufgaben sowie über methodische Unterweisungen bezüglich der Organisation der Dorfbewohner. Die Liste seiner Aufgaben ist lang: Er sollte

  • engen Kontakt mit der Dorfbevölkerung herstellen und Vertrauen gewinnen,
  • die örtliche Situation von den Bedürfnissen der Bevölkerung her analysieren,
  • Lösungsmöglichkeiten aufzeigen,
  • in gemeinsamer Erörterung mit der Dorfbevölkerung Entscheidungen entstehen lassen,
  • die Dorfbewohner zum Handeln anregen,
  • die notwendigen Fachkräfte der Behörden mit der Bevölkerung zusammen bringen,
  • staatliche, materielle und fachliche Unterstützung vermitteln,
  • die Behörden über die lokale Realität informieren.

Praktisch war er für alles zuständig. Für die Dorfbevölkerung gab es in ihm einen Mann, an den man sich in allen Angelegenheiten halten konnte. Entsprechend der indischen Bezeichnung 'gram sewak' (= Diener des Dorfes) war er kein Beamter mit Hoheitsrechten. Er mußte vielmehr das Vertrauen der Dorfbevölkerung gewinnen und konnte nur durch Überzeugung erfolgreich arbeiten. In Gestalt des Village Level Workers kam die Administration i n direkten Kontakt mit der Bevölkerung und erhielt Kenntnisse über Gegebenheiten und Bedürfnisse auf Dorfebene.

b) Angesichts der Tatsache, daß die aus der Kolonialzeit weiterbestehende unterste Verwaltungseinheit, der Distrikt, mit ca. 1 Million Einwohnern und 3000 Dörfern zu groß ist, um einen ausreichenden Kontakt der Verwaltungsdienste mit der Bevölkerung zu ermöglichen, wurde eine völlig neue administrative Ein heit geschaffen, der Development Block. Er umfaßt im Mittel 100 Dörfer mit etwa 60000 bis 70000 Menschen. Leiter der Verwaltung ist der Block Deveopment Officer, welcher über Hoheitsrechte verfügt und für die Planung und Finanzierung aller Aktivitäten in seinem Bezirk zuständig ist. Ihm steht ein Stab von Spezialisten für die verschiedenen Fachressorts zur Seite. Seine Stellung als direkter Vorgesetzter der Fachbeamten sollte die bisherige Ressorttrennung beseitigen. Außerdem ist der Block Development Officer Vorgesetzter der Village Level Worker.

c) Im Laufe der Zeit wurden Selbstverwaltungskörperschaften auf Gemeindeebene geschaffen, denen die Aufgabe der Projektplanung und — nach Genehmigung durch höhere Instanzen — deren Ausführung und Überwachung zukam. Ähnliche Organe der Willensbildung wurden auf höherer Ebene eingeführt. Die Verwaltung auf höherer Ebene geschah durch einen Sonderbeauftragten des Leiters der Distriktverwaltung, sowie durch spezielle Community-Development-Ministerien auf Staats- und Unionsebene.

In Indien wurde Community Development von Anfang an als Instrument zur Erreichung der Ziele der Fünfjahrespläne konzipiert, wodurch nicht nur seine schnelle Expansion über das ganze Land möglich wurde, sondern auch eine Kongruenz der Ziele sichergestellt war.

Vernachlässigt man Details über Organisation, Maßnahmen und Methoden des indischen Community Development-Ansatzes (siehe hierzu JOERGES, B. et al., 1969; MERTIN, J., 1962) und fragt nach den Erfolgen der gewaltigen Anstrengungen zwischen 1950 und 1965, dann ergibt sich ein mageres Ergebnis: Die Mehrheit der Autoren stimmt darin überein, daß Community Development wenig dazu beigetragen hat, die Lebenslage der Landbevölkerung zu verbessern. Partielle Erfolge etwa bei der Einführung von Handelsdüngern und neuen Sorten waren zwar zu verzeichnen, erwiesen sich jedoch als nicht durchschlagend. Auch das Ziel, sozialen Wandel herbeizuführen, wurde nicht erreicht. Eine allgemeine Mobilisierung der Landbevölkerung kam nicht zustande. Auch hier gab es partielle Erfolge, etwa im Schul- und Gesundheitswesen, aber qualitative Probleme sowie Schwierigkeiten bei der Unterhaltung der geschaffenen Einrichtungen verhinderten oft nachhaltige Wirkungen. Zumindest vordergründig scheint also auch hier wenig erreicht worden zu sein. Allerdings muß zu einem vorsichtigen Urteil geraten werden. Sozialer Wandel ist schwierig zu messen, und die Auswirkungen sind eventuell zu langfristig, als daß sie bei einer frühen Evaluierung schon zu erkennen wären. Vielleicht hat manche Unruhe von heute ihre Wurzeln in den z. T. 20 Jahre zurückliegenden Aktivitäten des Community Development. Insgesamt muß festgestellt werden, daß die mit großen „human investments" und hohen Kapitalausgaben erzielten Ergebnisse in keiner Weise den Erwartungen entsprochen haben.

Eine Analyse der Ursachen für diese begrenzten Erfolge läßt fünf Hauptbereiche erkennen:

a) Der Grundansatz weist Mängel auf

Die Idee einer in Selbsthilfe zur Besserung ihrer Situation freiwillig zusammenarbeitenden Dorfgemeinschaft setzt voraus, daß das Dorf und seine Einwohner eine relevante soziale Einheit bilden. In Wirklichkeit sind indische Dörfer nur begrenzt soziale Einheiten. Unterschiedliche Interessenlagen einzelner sozialer Schichten und die Abgrenzung zwischen verschiedenen Kasten bewirken Differenzierungen, die oft stärker sind als die räumliche Integration in Form des gemeinsamen Wohnortes. Aus diesem Grunde war es schwierig, Projekte zu finden, die für alle Gruppen interessant sind. Beispielsweise ist der Bau einer Zufahrtsstraße nur für den interessant, der etwas zu transportieren hat, also für die Landbewirtschafter, nicht aber für die Arbeiter. Selbst Trinkwasserbrunnen sind nur von Gruppeninteresse, wenn religiöse Gebräuche verhindern, daß sie von allen benutzt werden können. Solange die Grundbesitzer ihren Landarbeitern verbieten, Kinder in die Schule zu schicken, um sich so billige Arbeitskräfte für die Zukunft zu sichern, dient nicht einmal die Eröffnung einer Schule den Interessen aller. Als schließlich unter dem Eindruck der Ernährungsschwierigkeiten im Laufe der Zeit die Community-Development-Aktivitäten sich immer mehr auf die Förderung der Landwirtschaft konzentrierten, bedeutete dies eine Förderung der Landbewirtschafter, also der dörflichen Oberschicht. Als Folge davon waren die Landlosen noch weniger zur Mitarbeit bereit.

Der Grundansatz erfordert Gemeinsinn, der kaum Voraussetzung, sondern höchstens Ergebnis eines sozialen Wandels sein kann. Im Gegensatz zum Dorfzentrismus des Community Development versprachen sich die unteren Schichten eine Besserung ihrer Lage am ehesten durch Herauslösen aus der Dorfbezo-genheit, also durch horizontale Mobilität. Sie wanderten in großem Ausmaß in die Städte ab. Tatsächlich verhinderte die bestehende Sozialstruktur in den Dörfern jede vertikale Mobilität.

Probleme ergaben sich auch durch die Art der Auswahl von Block-Hauptorten. Während zu den Distriktsitzen alte wirtschaftliche, soziale und psychologische Beziehungen bestanden, waren die neuen Blockzentren oft keine zentralen Orte, störten sogar die bestehenden Zentrum-Hinterland-Beziehungen.

b) Die personellen Voraussetzungen waren ungenügend

Es zeigte sich, daß der Hauptförderungsagent, der Village Level Worker, über zu wenig Ausbildung verfügte. Sein geringes Gehalt bewirkte niederen Status. Nicht selten gehörte er einer Kaste an, die niederer war als die der Bauern, so daß er schon deshalb nicht akzeptiert wurde. Sein Bestreben, für sein Dorf etwas zu tun und dadurch Anerkennung zu finden, bewirkte, daß er sich immer mehr auf die Vermittlungs- und Beschaffungsfunktion verlegte und seine Hauptaufgaben vernachlässigte.

Auch die Block Development Officers entsprachen vielfach nicht den Erwartungen. Anstatt „Unternehmer in Entwicklung" zu sein, verstanden sich viele als Verwalter des Entwicklungsbudgets. Der große Unterschied in Einkommen und Status zwischen Village Level Worker und Block Development Officer machte die Kooperation schwierig. Zwar könnten theoretisch alle diese Personalmängel durch Ausbildung beseitigt werden, aber die praktische Durchführung wäre doch sehr schwierig. Die Zahl von 5 000 Development Blocks und 600 000 Dörfern in Indien weist auf das Ausmaß der zu bewältigenden Ausbildungsarbeit hin. Von nachteiliger Wirkung war er auch, daß die Spezialisten im Stab des Block Development Officer von ihren Fachministerien abgeordnete Beamte waren. Da solche Abordnungen von begrenzter Dauer waren, verhielten sie sich in kritischen Fällen loyal zu den Fachministerien und nicht zur Community-Development-Administration.

c) Sozialer Wandel hat politische Voraussetzungen

Neues wirtschaftliches, soziales und politisches Verhalten muß effektiv möglich sein. Dies war aber nicht oder nur in unvollkommenem Maße der Fall. Die Grundbesitzprobleme wurden vom Community-Development-Approach ignoriert. Feudale Herrschaftsformen bestanden weiter und die Neuordnung der politischen Willensbildung setzte erst in den späten Jahren des Community Development ein. Wegen der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit waren neue Verhaltensweisen für Teile der Bevölkerung gar nicht möglich.

d) Die Konzeption als Mehrzweckprogramm erwies sich als problematisch

Der integrale Charakter des Community-Development-Ansatzes zur Förderung der landwirtschaftlichen Entwicklung — theoretisch einer der wichtigsten Vorzüge — erwies sich im Laufe der Zeit als Schwäche. Die dünnste Stelle im System war offensichtlich der Village Level Worker. Er war für alles zuständig, und dies ging über seine Fähigkeiten und Kräfte. Seine Reaktion war, sich primär auf solche Aktivitäten zu stürzen, die ihm am leichtesten fielen und den schnellsten Erfolg brachten (ALBRECHT, H., 1969, S. 31). Er wurde immer mehr zu einem Agenten, der für das Dorf Beihilfe von außen zu erhalten suchte. Die Betonung verschob sich mehr und mehr auf die ökonomischen Ziele unter Vernachlässigung des sozialen Wandels. Auf ökonomische Ziele hin orientierte Projekte bringen relativ schnell Ergebnisse, sind leicht vorzuzeigen und bringen Lob von Vorgesetzten, sowie Anerkennung bei der Dorfbevölkerung. Besonders Bauprojekte wurden damals als eine Art 'Geltungskonsum' bei der Bevölkerung immer beliebter und standen auch bei der Administration in hohem Ansehen. Sie lassen sich leicht quantitativ erfassen und in Erfolgsberichten aufführen. Bei Einweihungsfeiern kommen viele hohe Beamte zusammen, was dem Ansehen des Dorfes wie der Administration förderlich ist. Mit Aktivitäten, die auf sozialen Wandel zielen, ist dergleichen nicht zu erreichen.

e) Das Konzept ist ökonomisch nicht konsequent durchdacht

Der Selbsthilfegedanke wurde teilweise übertrieben. In manchen Fällen wäre durch einen gewissen Mehraufwand ein größerer und nachhaltiger Erfolg zu verzeichnen gewesen. Dies gilt besonders für die vielen Straßen, deren Befestigung oft so unzureichend war, daß sie den nächsten Monsunregen nicht überstanden. Mittel für Instandhaltung waren kaum verfügbar. Manche wenig produktiven Formen der Kleinindustrie wurden gefördert, waren aber nur durch ständige Subventionen am Leben zu erhalten. Schließlich wurden die Community-Development-Ausgaben nicht mit alternativen Verwendungsmöglichkeiten verglichen. Meist wurden Dinge geschaffen, die volkswirtschaftlich erst langsam ausreifen, teils das wirtschaftliche Wachstum gar nicht förderten. Zum Teil liegt dies in der Natur eines auch auf sozialen Wandel zielenden Programms. Hier war es aber weniger geplant als vielmehr der zufälligen Entscheidung des einzelnen Beamten überlassen, welcher Prozentsatz der Gesamtaufwendungen auf die einzelnen Teilziele verteilt wurde.