1.b) Land-Stadtwanderung und Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen
Steigende Lebensansprüche und -erwartungen, Kenntnis
von der zunehmenden Prosperität in den Städten,
fehlende wirtschaftliche Chancen und soziale Härten im
traditionellen agrarischen Sektor sind die Wurzeln zunehmender
Raten der Land-Stadtwanderung in fast allen Ländern des
tropischen Afrika. Das Ausmaß dieser Wanderungsbewegung
ist so stark, daß zahlreiche Städte ihre Einwohnerzahl
innerhalb weniger Jahre verdoppelt haben.
Einwohnerzahl ausgewählter
Städte |
Nairobi |
1955 |
197 500 *) |
|
1962 |
314 760 *) |
Monrovia |
1956 |
41 391 |
|
1962 |
80 992 |
Lagos |
1955 |
300 000 |
|
1963 |
410000 |
Lusaka |
1956 |
33163 *) |
|
1963 |
100 200 *) |
Freetown |
1956 |
77 420 |
|
1963 |
128 000 |
Accra |
1960 |
337 828 |
|
1965 |
484 783 |
Brazzaville |
1955 |
76 200 |
|
1961/62 |
136 000 |
Abidjan |
1955 |
127585 *) |
|
1963 |
246 700 *) |
|
|
*) städtisches Ballungsgebiet. |
Quelle: UN Demographic Yearbook
1962, 1963 und 1966, Tab. 6, New York 1962, 1963 und 1966 |
Diese umfangreiche Wanderungsbewegung hat weitreichende soziale
und wirtschaftliche Konsequenzen sowohl für die ländlichen
Gebiete als auch für die Städte. Zu den offensichtlichen
Ergebnissen zunehmender Abwanderungsraten gehört die
schnelle Desintegration der traditionellen ländlichen
Gesellschaft. Diese sorgte für die Bedürfnisse der
Mitglieder, agierte als Kontroll- und Schutzinstitution und
war eine Art Garantie für Sicherheit und Existenz ihrer
Mitglieder. Das Leben in urbanen Zentren hat die Verbundenheit
zur traditionellen Gesellschaft, also zur Familie, zum Stamm
usw., gelockert und in gewissem Grade sogar aufgehoben. Dies
trifft besonders für die Funktion der sozialen Kontrolle
zu, während die Funktion der sozialen Sicherung in den
Städten zum Teil von neuen Institutionen, nämlich
den Stammesverbindungen (tribal associations) übernommen
wurde. Die Abwesenheit neuer Institutionen der sozialen Kontrolle,
welche die alten ersetzen könnten, wird deutlich in Entwicklungen
wie Slums, Kriminalismus, Alkoholismus, Radikalisierung usw.
Derartige Erscheinungen waren überall auf der Welt und
zu allen Zeiten mit den frühen Stadien der Urbanisierung
verbunden. Die besondere Gefahr im Falle der afrikanischen
Länder liegt in der Geschwindigkeit, mit der die Verstädterung
vor sich geht.
Für die ländlichen Gebiete besteht die Hauptkonsequenz
der Wanderungsbewegung in die städtischen Gebiete in
einem Verlust für das landwirtschaftliche Entwicklungspotential.
Zwar würde grundsätzlich eine Abnahme der landwirtschaftlichen
Bevölkerung keinen Nachteil für den Agrarsektor
bedeuten und nur das Ausmaß der ländlichen Unterbeschäftigung
etwas reduzieren. Zu nachteiligen Auswirkungen kommt es jedoch
durch die Selektivität der Wanderung. In erster Linie
verlassen die jungen, aktiven Teile der Bevölkerung die
ländlichen Gebiete und lassen die alten und inaktiven
zurück. Diese Erscheinung bedeutet natürlich eine
Reduzierung der Qualität des menschlichen Faktors und
begrenzt die Chancen für eine schnelle landwirtschaftliche
Entwicklung. Angesichts des begrenzten Nahrungsangebotes in
vielen Ländern wären Untersuchungen über die
Auswirkung der Abwanderung auf die landwirtschaftliche Produktion
dringend notwendig. Zwar gehören viele der Abwanderer
zu den bisher Unterbeschäftigten, und rechnerisch dürfte
ihr Ausscheiden aus der Agrarproduktion keine Auswirkungen
haben; in der Praxis hat sich jedoch gezeigt, daß es
ohne nachteilige Wirkungen auf die Agrarproduktion nicht möglich
ist, auch nur geringe Teile der ländlichen Arbeitskräfte
abzuziehen, wenn nicht gleichzeitig organisatorische Änderungen
in der Landwirtschaft vorgenommen werden. Damit ist aber kaum
zu rechnen.
Bei der Masse der Wanderer vom Lande in die Stadt handelt
es sich um junge Menschen, die oft gerade ihre Schulzeit beendet
haben. Derselbe Personenkreis bildet die Masse der städtischen
Arbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen bildet
heute in den meisten Ländern des tropischen Afrika das
schwierigste Beschäftigungsproblem. Der Umfang, den diese
Erscheinung angenommen hat, geht daraus hervor, daß
allein für Westnigeria die Zahl der arbeitslosen Schulentlassenen
für 1966 auf 800 000 geschätzt wird (16). Diese
jungen Menschen wandern in die Stadt und erhoffen sich dort
ansprechendere Lebensbedingungen als auf dem Lande. In der
Praxis vergrößern sie meist nur das Heer der Arbeitslosen.
Durch die Wanderung in die Stadt wird sozusagen ländliche
Unterbeschäftigung in städtische Arbeitslosigkeit
überführt. In diesem Zusammenhang ist interessant,
daß mehrere Autoren bei der Beschreibung ähnlicher
Probleme in Asien die Ansicht vertreten haben, nur eine Überführung
der Unterbeschäftigung in Arbeitslosigkeit würde
Aussicht auf Maßnahmen zur Abhilfe mit sich bringen.
Man vertrat die Ansicht, daß nur die offen zu Tage getretene
Arbeitslosigkeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
auf sich lenke und politische Gefahren mit sich bringe, die
Anlaß zu staatlichen Eingriffen sein können.
Die Ursachen für die massenhafte Abwanderung junger
Menschen in die Stadt sind vielfältig und lassen sich
nicht mit dem sehr oft zitierten, stereotypen „Keine
Lust zur Landarbeit, Jagd nach Büroposten" erfassen.
Die Mehrzahl der Abwanderer hat gerade ihre Primärschule
hinter sich gebracht. Diese Ausbildung hat genügt, sie
mit den Möglichkeiten unserer Welt bekannt zu machen
und ihre Wünsche und Ansprüche steigen zu lassen.
Sie genügt jedoch nicht für die Anforderungen auch
nur eines Berufes mit mittleren Ansprüchen. Der Besuch
fortführender Schulen ist ihnen jedoch verwehrt, da solche
nur in ganz geringer Zahl zur Verfügung stehen. Die Regierungen
haben nach der Unabhängigkeit der Forderung der Massen
nach Ausbildungsmöglichkeiten durch starke Forcierung
des Primärschulwesens entsprochen, aber in erster Linie
aus Geldmangel bisher wenig Möglichkeiten gesehen, auch
Sekundärschulen in der nötigen Zahl zu errichten.
Dadurch ist der Masse eine über die Primärschule
hinausführende Ausbildung versagt. Die nicht unerheblichen
Kosten eines Besuches von Sekundärschulen bilden ein
weiteres Hindernis.
Bei der überwiegenden Mehrheit der Schulentlassenen
besteht eine ausgesprochene Abneigung gegen den üblichen
väterlichen Beruf, nämlich die Arbeit in der Landwirtschaft.
Die Aufnahme dieses Berufes würde auch von den Angehörigen
als Unfähigkeit angesehen werden, zu einem besseren Einkommen
zu gelangen. Die Hauptursache für die Abneigung gegen
Arbeit in der Landwirtschaft liegt aber darin, daß die
jungen Menschen in der traditionellen Landwirtschaft keine
Zukunftschancen erblicken, eine Ansicht, die weitgehend den
Tatsachen entspricht. Insofern ist es auch nicht richtig,
von einer Abneigung gegen die Landwirtschaft allgemein zu
sprechen. Es hat sich nämlich gezeigt, daß viele
der jungen Leute, die der traditionellen Landwirtschaft den
Rücken kehren, durchaus an einer Berufstätigkeit
in einer modernen, von ihnen als aussichtsreich erachteten
Landwirtschaft interessiert sind, so z. B. bei Siedlungsprojekten.
Überhaupt spielen die wirtschaftlichen Aussichten eines
Berufes eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entscheidung
der Jugend. So dürfte der Drang nach einer Bürotätigkeit
nicht so sehr Ergebnis einer Abneigung gegen manuelle Arbeit,
sondern vielmehr in der relativ guten Bezahlung solcher Posten
begründet sein. Es hat sich gezeigt, daß keine
wesentliche Abneigung gegen die Aufnahme manueller Arbeit
bestand, wann immer diese gut bezahlt wurde. Teils sind sogar
Schullehrer in solcher Zahl zu den besser bezahlten manuellen
Tätigkeiten bei der Eisenbahn und in den Minen übergewechselt,
daß ein Mangel an Lehrkräften in den betreffenden
Ländern aufgetreten ist.
Neben ökonomischen Motiven für eine Abwanderung
vom Lande spielen aber auch andere eine wesentliche Rolle.
Die Jugend fühlt sich durch den hierarchischen Aufbau
mit den Ältesten an der Spitze und durch die starre soziale
Kontrolle in der traditionellen Gesellschaft gehemmt und sucht
in der Anonymität der Stadt Befreiung von unerwünschten
Bindungen. Der Mangel an Unterhaltungsmöglichkeiten und
die Langeweile auf dem Lande sind für viele ebenfalls
ein Grund zur Abwanderung in die Stadt.
Es trifft nicht den Kern der Sache, wenn man in die Stadt
abgewanderte Schulabsolventen, die keinen eigentlichen Erwerb
gefunden haben, als arbeitslos bezeichnet. Viele kommen unmittelbar
nach Ende der Primärschule, also in sehr jungem Alter
in die Stadt und leben bei Verwandten, die oft auch ihre Schulausbildung
bezahlt haben. Wenn sie keinem Erwerb nachgehen, so ist dies
nur teilweise eine Folge der sehr begrenzten Erwerbsmöglichkeiten.
Viele sind bei ihrer Ankunft in der Stadt noch so jung, daß
man von ihnen die Aufnahme regelmäßiger Erwerbstätigkeit
nicht erwarten kann. Vielmehr brauchen sie eine Unterkunft
bei einer Person, die nicht nur Arbeitgeber ist, sondern die
Stelle des Vaters als Erzieher und Berater vertritt. Sie finden
diese bei ihren Verwandten, die auch ihre Ausbildung bezahlt
haben und dafür jetzt erwarten, daß die Jungen
bei ihnen im Hause oder Geschäft kleine Handreichungen
und Dienste übernehmen. Erst einige Jahre später,
im Alter von 16 - 18 Jahren, beginnen sie die Bande zu ihren
Verwandten zu lockern und sich aktiv nach einer Erwerbstätigkeit
umzusehen, wären also wirklich als arbeitslos anzusprechen.
Dagegen würden die sozialen Umstände nicht mit berücksichtigt,
wenn man auch den 14jährigen, der bei seinen Verwandten
lebt, als solchen auffassen würde.
Zweifellos ist die Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen
eine vorübergehende Erscheinung, die ihr Ende findet,
wenn in Zukunft Beschäftigungsmöglichkeiten und
Ausbildungsziele bzw. -formen mehr aufeinander abgestimmt
sein werden und die Berufswünsche der Jugend mehr mit
den Bedürfnissen der Wirtschaft und Gesellschaft in Einklang
stehen. Bis dahin besteht jedoch die Gefahr, daß die
Enttäuschung der Jugend zu sozial, wenn nicht politisch
gefährlichen Situationen führt.
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