1.b) Land-Stadtwanderung und Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen

Steigende Lebensansprüche und -erwartungen, Kenntnis von der zunehmenden Prosperität in den Städten, fehlende wirtschaftliche Chancen und soziale Härten im traditionellen agrarischen Sektor sind die Wurzeln zunehmender Raten der Land-Stadtwanderung in fast allen Ländern des tropischen Afrika. Das Ausmaß dieser Wanderungsbewegung ist so stark, daß zahlreiche Städte ihre Einwohnerzahl innerhalb weniger Jahre verdoppelt haben.


Diese umfangreiche Wanderungsbewegung hat weitreichende soziale und wirtschaftliche Konsequenzen sowohl für die ländlichen Gebiete als auch für die Städte. Zu den offensichtlichen Ergebnissen zunehmender Abwanderungsraten gehört die schnelle Desintegration der traditionellen ländlichen Gesellschaft. Diese sorgte für die Bedürfnisse der Mitglieder, agierte als Kontroll- und Schutzinstitution und war eine Art Garantie für Sicherheit und Existenz ihrer Mitglieder. Das Leben in urbanen Zentren hat die Verbundenheit zur traditionellen Gesellschaft, also zur Familie, zum Stamm usw., gelockert und in gewissem Grade sogar aufgehoben. Dies trifft besonders für die Funktion der sozialen Kontrolle zu, während die Funktion der sozialen Sicherung in den Städten zum Teil von neuen Institutionen, nämlich den Stammesverbindungen (tribal associations) übernommen wurde. Die Abwesenheit neuer Institutionen der sozialen Kontrolle, welche die alten ersetzen könnten, wird deutlich in Entwicklungen wie Slums, Kriminalismus, Alkoholismus, Radikalisierung usw. Derartige Erscheinungen waren überall auf der Welt und zu allen Zeiten mit den frühen Stadien der Urbanisierung verbunden. Die besondere Gefahr im Falle der afrikanischen Länder liegt in der Geschwindigkeit, mit der die Verstädterung vor sich geht.

Für die ländlichen Gebiete besteht die Hauptkonsequenz der Wanderungsbewegung in die städtischen Gebiete in einem Verlust für das landwirtschaftliche Entwicklungspotential. Zwar würde grundsätzlich eine Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung keinen Nachteil für den Agrarsektor bedeuten und nur das Ausmaß der ländlichen Unterbeschäftigung etwas reduzieren. Zu nachteiligen Auswirkungen kommt es jedoch durch die Selektivität der Wanderung. In erster Linie verlassen die jungen, aktiven Teile der Bevölkerung die ländlichen Gebiete und lassen die alten und inaktiven zurück. Diese Erscheinung bedeutet natürlich eine Reduzierung der Qualität des menschlichen Faktors und begrenzt die Chancen für eine schnelle landwirtschaftliche Entwicklung. Angesichts des begrenzten Nahrungsangebotes in vielen Ländern wären Untersuchungen über die Auswirkung der Abwanderung auf die landwirtschaftliche Produktion dringend notwendig. Zwar gehören viele der Abwanderer zu den bisher Unterbeschäftigten, und rechnerisch dürfte ihr Ausscheiden aus der Agrarproduktion keine Auswirkungen haben; in der Praxis hat sich jedoch gezeigt, daß es ohne nachteilige Wirkungen auf die Agrarproduktion nicht möglich ist, auch nur geringe Teile der ländlichen Arbeitskräfte abzuziehen, wenn nicht gleichzeitig organisatorische Änderungen in der Landwirtschaft vorgenommen werden. Damit ist aber kaum zu rechnen.

Bei der Masse der Wanderer vom Lande in die Stadt handelt es sich um junge Menschen, die oft gerade ihre Schulzeit beendet haben. Derselbe Personenkreis bildet die Masse der städtischen Arbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen bildet heute in den meisten Ländern des tropischen Afrika das schwierigste Beschäftigungsproblem. Der Umfang, den diese Erscheinung angenommen hat, geht daraus hervor, daß allein für Westnigeria die Zahl der arbeitslosen Schulentlassenen für 1966 auf 800 000 geschätzt wird (16). Diese jungen Menschen wandern in die Stadt und erhoffen sich dort ansprechendere Lebensbedingungen als auf dem Lande. In der Praxis vergrößern sie meist nur das Heer der Arbeitslosen. Durch die Wanderung in die Stadt wird sozusagen ländliche Unterbeschäftigung in städtische Arbeitslosigkeit überführt. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß mehrere Autoren bei der Beschreibung ähnlicher Probleme in Asien die Ansicht vertreten haben, nur eine Überführung der Unterbeschäftigung in Arbeitslosigkeit würde Aussicht auf Maßnahmen zur Abhilfe mit sich bringen. Man vertrat die Ansicht, daß nur die offen zu Tage getretene Arbeitslosigkeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich lenke und politische Gefahren mit sich bringe, die Anlaß zu staatlichen Eingriffen sein können.

Die Ursachen für die massenhafte Abwanderung junger Menschen in die Stadt sind vielfältig und lassen sich nicht mit dem sehr oft zitierten, stereotypen „Keine Lust zur Landarbeit, Jagd nach Büroposten" erfassen. Die Mehrzahl der Abwanderer hat gerade ihre Primärschule hinter sich gebracht. Diese Ausbildung hat genügt, sie mit den Möglichkeiten unserer Welt bekannt zu machen und ihre Wünsche und Ansprüche steigen zu lassen. Sie genügt jedoch nicht für die Anforderungen auch nur eines Berufes mit mittleren Ansprüchen. Der Besuch fortführender Schulen ist ihnen jedoch verwehrt, da solche nur in ganz geringer Zahl zur Verfügung stehen. Die Regierungen haben nach der Unabhängigkeit der Forderung der Massen nach Ausbildungsmöglichkeiten durch starke Forcierung des Primärschulwesens entsprochen, aber in erster Linie aus Geldmangel bisher wenig Möglichkeiten gesehen, auch Sekundärschulen in der nötigen Zahl zu errichten. Dadurch ist der Masse eine über die Primärschule hinausführende Ausbildung versagt. Die nicht unerheblichen Kosten eines Besuches von Sekundärschulen bilden ein weiteres Hindernis.

Bei der überwiegenden Mehrheit der Schulentlassenen besteht eine ausgesprochene Abneigung gegen den üblichen väterlichen Beruf, nämlich die Arbeit in der Landwirtschaft. Die Aufnahme dieses Berufes würde auch von den Angehörigen als Unfähigkeit angesehen werden, zu einem besseren Einkommen zu gelangen. Die Hauptursache für die Abneigung gegen Arbeit in der Landwirtschaft liegt aber darin, daß die jungen Menschen in der traditionellen Landwirtschaft keine Zukunftschancen erblicken, eine Ansicht, die weitgehend den Tatsachen entspricht. Insofern ist es auch nicht richtig, von einer Abneigung gegen die Landwirtschaft allgemein zu sprechen. Es hat sich nämlich gezeigt, daß viele der jungen Leute, die der traditionellen Landwirtschaft den Rücken kehren, durchaus an einer Berufstätigkeit in einer modernen, von ihnen als aussichtsreich erachteten Landwirtschaft interessiert sind, so z. B. bei Siedlungsprojekten.

Überhaupt spielen die wirtschaftlichen Aussichten eines Berufes eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entscheidung der Jugend. So dürfte der Drang nach einer Bürotätigkeit nicht so sehr Ergebnis einer Abneigung gegen manuelle Arbeit, sondern vielmehr in der relativ guten Bezahlung solcher Posten begründet sein. Es hat sich gezeigt, daß keine wesentliche Abneigung gegen die Aufnahme manueller Arbeit bestand, wann immer diese gut bezahlt wurde. Teils sind sogar Schullehrer in solcher Zahl zu den besser bezahlten manuellen Tätigkeiten bei der Eisenbahn und in den Minen übergewechselt, daß ein Mangel an Lehrkräften in den betreffenden Ländern aufgetreten ist.

Neben ökonomischen Motiven für eine Abwanderung vom Lande spielen aber auch andere eine wesentliche Rolle. Die Jugend fühlt sich durch den hierarchischen Aufbau mit den Ältesten an der Spitze und durch die starre soziale Kontrolle in der traditionellen Gesellschaft gehemmt und sucht in der Anonymität der Stadt Befreiung von unerwünschten Bindungen. Der Mangel an Unterhaltungsmöglichkeiten und die Langeweile auf dem Lande sind für viele ebenfalls ein Grund zur Abwanderung in die Stadt.

Es trifft nicht den Kern der Sache, wenn man in die Stadt abgewanderte Schulabsolventen, die keinen eigentlichen Erwerb gefunden haben, als arbeitslos bezeichnet. Viele kommen unmittelbar nach Ende der Primärschule, also in sehr jungem Alter in die Stadt und leben bei Verwandten, die oft auch ihre Schulausbildung bezahlt haben. Wenn sie keinem Erwerb nachgehen, so ist dies nur teilweise eine Folge der sehr begrenzten Erwerbsmöglichkeiten. Viele sind bei ihrer Ankunft in der Stadt noch so jung, daß man von ihnen die Aufnahme regelmäßiger Erwerbstätigkeit nicht erwarten kann. Vielmehr brauchen sie eine Unterkunft bei einer Person, die nicht nur Arbeitgeber ist, sondern die Stelle des Vaters als Erzieher und Berater vertritt. Sie finden diese bei ihren Verwandten, die auch ihre Ausbildung bezahlt haben und dafür jetzt erwarten, daß die Jungen bei ihnen im Hause oder Geschäft kleine Handreichungen und Dienste übernehmen. Erst einige Jahre später, im Alter von 16 - 18 Jahren, beginnen sie die Bande zu ihren Verwandten zu lockern und sich aktiv nach einer Erwerbstätigkeit umzusehen, wären also wirklich als arbeitslos anzusprechen. Dagegen würden die sozialen Umstände nicht mit berücksichtigt, wenn man auch den 14jährigen, der bei seinen Verwandten lebt, als solchen auffassen würde.

Zweifellos ist die Arbeitslosigkeit der Schulentlassenen eine vorübergehende Erscheinung, die ihr Ende findet, wenn in Zukunft Beschäftigungsmöglichkeiten und Ausbildungsziele bzw. -formen mehr aufeinander abgestimmt sein werden und die Berufswünsche der Jugend mehr mit den Bedürfnissen der Wirtschaft und Gesellschaft in Einklang stehen. Bis dahin besteht jedoch die Gefahr, daß die Enttäuschung der Jugend zu sozial, wenn nicht politisch gefährlichen Situationen führt.