2.6 Wanderungen

Zu den beliebten Themen der Frühzeit agrarsoziologischer Entwicklungsländerforschung zählt die Land-Stadt-Wanderunq, also die horizontale Mobilität einschließlich der Urbanisierungsprobleme. Dieser Prozeß hat eine neue Dimension erreicht, die neuer wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf. Regionale Entwicklungserfolge haben das Ausmaß der Wanderung in die Entwicklungskerne erheblich verstärkt, so daß es zur Entleerung ländlicher Räume mit marginalen Standorten kommt. In anderen Regionen führt die Aufgabe nomadischer Lebensweise zu ähnlichen Entwicklungen mit der Konsequenz, daß bestimmte wirtschaftliche Funktionen in den Entleerungsgebieten nicht aufrechterhalten werden können. Teilweise hat dies auch ökologisch nachteilige Konsequenzen.

Auch die Frage der Ursachen des Wanderungsprozesses ist in neuem Licht zu sehen. Der Transistor hat Informationen und Unterhaltung ins letzte Dorf gebracht, und wirtschaftlich geht es den Abwanderern in der Stadt oft nicht besser, vielfach objektiv schlechter. Spielen aber die vergleichsweise besseren Bildungschancen für die Kinder und das Abstreifen im Dorf noch wirksamer alter Bindungen für die junge Generation nicht eine wichtigere Rolle als ökonomische Anreize? Und entsteht nicht in manchen Gebieten durch zunehmende Verkleinerung der landwirtschaftlichen Betriebe und immer häufigere Landlosigkeit ein Zwang zur Abwanderung? Muß unter solchen Verhältnissen nicht vom Konzept der landwirtschaftlichen Entwicklung abgewichen werden zugunsten allgemeiner Regionalentwicklung, wenn man die Probleme in den Griff bekommen will?

Eine Entwicklung der letzten Jahre ist die internationale Migration, die Gastarbeiterwanderung, deren Konsequenzen noch wenig erforscht sind. Zwar liegen einige Arbeiten über die bei uns tätigen Gastarbeiter aus Südeuropa vor, in denen die Auswirkungen auf die Herkunftsgebiete, die Wiedereingliederungsprobleme, der soziale Wandel und das Investitionsverhalten der Rückkehrer untersucht wurden. Inzwischen ist aber Gastarbeiterwanderung zu einem weltweiten Problem geworden. Die Forschung muß sich der Konsequenzen des Weggangs junger Männer für Dorf und Landwirtschaft, der Verwendung der Geldrücksendungen, der Wirkung auf die soziale Schichtung im Dorf, auf Werte und Aspirationen der Jugend und vieles andere mehr annehmen. Kurzfristig scheint die Erhöhung des Lebensstandards alle negativen Aspekte zu überdecken. Ob dies langfristig so bleibt, wie die Gastarbeiter sich nach ihrer Rückkehr verhalten werden, was geschieht, wenn sie in großer Zahl einmal zurückgeschickt werden sollten, wirft viele ungelöste Fragen auf.