2.1 Agrarverfassung

Grundlegendes Ziel menschlichen Handelns in allen Gesellschaften, besonders aber in solchen niedrigen Lebensstandards -wie wir sie in der Dritten Welt haben - ist die Sicherung des Überlebens. Hierfür setzen die Menschen die ihnen verfügbaren Ressourcen ein. Dies sind in erster Linie ihr Land und ihre Arbeit. Entsprechend gehören die Rechte, die Individuen und Gruppen am Boden haben und die daraus resultierenden sozialen Beziehungen der Landbevölkerung untereinander, also die Aqrar-verfassunq, zu den wichtigsten Institutionen der ländlichen Gesellschaft. Die Agrarverfassung mit ihren beiden Hauptstücken Grundbesitzverfassung und Arbeitsverfassung hat in der agrar-soziologischen Forschung stets eine große Rolle gespielt, so sehr, daß NEUNDÖRFER (4) einmal definiert hat: "die Agrarver-fassung ist das Arbeitsgebiet der Agrarsoziologie", eine Auffassung, der wohl so als zu eng nicht zuzustimmen ist, die aber doch den Stellenwert dieses Problembereiches andeutet.
Die Grundbesitzverfassunq vieler Länder ist untersucht worden, und besonderes Augenmerk ist auf die Erfassung der unterschiedlichen Gegebenheiten, auf die Vererbung des Grundbesitzes und auf den Teilbau gelegt worden. Weniger im Mittelpunkt der Betrachtung standen Änderungen der Agrarverfassung unter dem Einfluß sich ändernder wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verhältnisse, also der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Bemerkenswerte Unklarheit besteht noch hinsichtlich der Bodenrechtsverhältnisse im Schwarzen Afrika, vielleicht nicht zuletzt, weil man die sehr differenzierten Rechtsverhältnisse mit den in Europa gebräuchlichen Termini in den Griff bekommen wollte, ein Unterfangen, das kaum gelingen kann.
Es scheint auch, als ob gerade in Gebieten kräftiger landwirtschaftlicher Entwicklung sich eine neue Form der Pacht entwickelt hat, die den Boden intensiver Bewirtschaftung zuführt, und zwar von ganz anderen Personen mit ganz anderen Zielen als im traditionellen Teilbau. Hier ist eine Aufarbeitung und Neueinschätzung der Pacht erforderlich.
Unsere heutigen Bemühungen um die Erhaltung der Umwelt sollten Anlaß geben zu Untersuchungen über Unterschiede im Umweltverhalten bei unterschiedlichen Typen der Agrarverfassung, etwa unterschiedlicher Gefährdung, unterschiedlicher Akzeptanz von Haßnahmen etc.
Ziele, Maßnahmen und Ergebnisse von Agrarreformen waren lange Zeit beliebtes Feld agrarsoziologischer Forschung. In jüngerer Zeit hat sich nicht viel Neues mehr ergeben. Das Problem liegt mehr auf politischem Gebiet. Wo sie nötig sind, werden keine Reformen durchgeführt! Forschungsaufgaben liegen noch in der Untersuchung über den Prozeß des Zustandekommens von Agrarreformen. Welche Wirkungen können Bauernbewegungen haben? Wie sieht das Kräftespiel im Konflikt zwischen Regierungen, Bauernbewegungen und Grundbesitzern aus? Welche externen Einflüsse bestehen? Man muß nicht nur an Bananenkonzerne denken; finanzielle Unterstützungen des Auslands aus strategischen Gründen können eine Regierung innenpolitisch so stärken, daß sie sonst fällige Reformen umgehen kann. Hier sind auch die Ergebnisse politikwissenschaftlicher Arbeit einzubeziehen, wie die Politologen die agrarwissenschaftlichen Arbeiten zu Agrarverfas-sung und Agrarreform zur Kenntnis nehmen sollten.