Die türkische Landwirtschaft im Prozeß zunehmender
Industrialisierung
Trotz einiger Ansätze in früherer Zeit - etwa
die Industrialisierungspläne von 1933 und 1936 und das
Entstehen von Industrien in Staatshand - begann die eigentliche
Industrialisierung erst nach dem 2. Weltkrieg.
Die Landwirtschaft war zu dieser Zeit gekennzeichnet durch
ungleiche Landverteilung und allgemeine Rückständigkeit:
Großgrundbesitz mit Absentismus bestand neben vielen
Klein- und Kleinstbetrieben, unproduktiven Teilpächtern,
in Armut lebenden Landarbeitern, verbreiteter Unterbeschäftigung,
fehlender Infrastruktur incl. Schulwesen sind einige Stichworte,
die die damaligen Verhältnisse kennzeichnen. Ich habe
im Jahre 1964 zum ersten Mal weite Teile der Türkei bereist,
und aus heutiger Sicht sind die Verhältnisse in manchen
Dörfern, die ich gesehen habe, kaum vorstellbar.
Frühe Ansätze zu Änderungen waren nicht von
dauerhaftem Erfolg. Die Dorfinstitute von 1940 gingen nach
Anfangserfolgen zurück und wurden aufgelöst, und
das Landverteilungsgesetz -von 1945 brachte kaum mehr als
die Verteilung von etwas Staatsland. Wichtig ist festzuhalten,
daß es bei Beginn der zunehmenden Industrialisierung
noch keine Agrarreform gegeben hatte, und daß der Entwicklungsstand
vieler ländlicher Gebiete unvergleichlich niedriger war
als der der großen Städte.
Die Politik der 50er Jahre setzte dann auf Steigerung der
Agrarproduktion durch Ausweitung der Anbaufläche, wozu
staatliche Kredite zur Anschaffung von Traktoren gegeben wurden.
Die Bewässerung wurde ausgedehnt, und Stützpreise
sollten Anreize geben.
Tatsächlich kam es zu starken Steigerungen der Produktion.
Bis 1954 konnte trotz der hohen Bevölkerungszunahme noch
Weizen exportiert werden. Dem erklärten Ziel 'soziale
Gerechtigkeit' ist man aber nicht näher gekommen. Die
Maßnahmen nutzten den größeren Betrieben,
während kleinere und besonders die vielen Selbstversorgerbetriebe
leer ausgingen. Wer nicht verkauft, dem nützten Stützpreise
nichts. Nach der Traktorisierung verloren Pächter ihren
Status, und viel des staatlichen Weidelandes sowie Wald -
wichtig für die Subsistenz der Ärmsten - wurden
von den Traktorbesitzern in Nutzung genommen und den Kleinbetrieben
entzogen.
Die Militärintervention von 1960 brachte eine Liberalisierung
und Einführung von 'mixed economy'. Ziel war ein starkes
industrielles Wachstum, und die Landwirtschaft sollte dazu
die Rohstoffbasis bieten und Arbeitskräftereserven bereithalten,
so daß die Löhne nahe dem Subsistenzniveau bleiben
konnten. Für die Landwirtschaft hieß dies kapitalintensivere
Produktion, Bodenkonzentration und Marktintegration, alles
Maßnahmen für größere Betriebe, während
man für die traditionellen Produktionsstrukturen einen
Rückgang erwartete.
Tatsächlich gab es bei der Industrialisierung erhebliche
Fortschritte, und ab etwa 1970 spricht man von einem halbindustriellen
Schwellenland. Für die Landwirtschaft wurde bis 1980
das Ziel Produktionssteigerung fortgesetzt und durch Subventionen
für Traktoren, Dünger, und für durch öffentlich
Institutionen vermarktete Produkte gefördert.
In dieser Zeit kam es erst zur Einführung mechanisch-technischen
Fortschritts, besonders Traktoren, mit dem Ergebnis einer
Flächenausdehnung und von Pächterkündigungen.
Der biologsch-technische Fortschritt folgte etwas später
und hat nicht gleiche Ausmaße erreicht. Die erzielen
Produktionssteigerungen waren Folge von Flächenausdehnung,
weniger von höheren Flächenerträgen, Im Prinzip
sind beide Fortschrittsarten teilbar und daher bei allen Betriebsgrößen
einsetzbar. Macht und Interesse bewirkten aber in der Realität
eine unterschiedliche Nutzung.
Ergebnis dieser Zeit, in der die Agrarstruktur nicht angetastet
wurde, ist das Einsetzen massenweiser Landflucht. Ein 1973
erlassenes Agrarreformgesetz wurde kurze Zeit später
wieder rückgängig gemacht. Die Landflucht führte
wegen der Konzentration der Industrie in wenigen Städten
in eben diese Großstädte, z.T. ins Ausland. Eine
fehlende Agrarreform hielt die Menschen nicht in den Dörfern,
aber gleichzeitig war die Industrialisierung nicht genügend
fortgeschritten, um die nötigen Arbeitsplätze zu
geben. Die Probleme wurden vom Land auf die Stadt übertragen
und führten zu einem Aufblähen des informellen Sektors,
zu Slumbildung und Arbeitslosigkeit.
Eine Umwälzung brachte die Richtlinien von 1980, mit
denen eine Wirtschaftsentwicklung auf der Basis freier Marktwirtschaft
erreicht werden sollte. Die Subventionen wurden - mit Ausnahme
für Exportprodukte -aufgehoben, und die Stützpreise
erniedrigt. Im Jahre 1981 erhielt der Landwirt nur noch 41
% des Weizenpreises von vor fünf Jahren. Kredite gab
es nur für Mittel- und Großbetriebe. Eine Kapitalkonzentration
erfolgte besonders bei den Exportbetrieben. Die Politik verfolgte
also weiter das Ziel der Bodenkonzentration und auf diesem
Weg der Produktionssteigerung, nicht aber das Ziel, die Menschen
auf dem Land zu halten.
Zwar hat die liberale Agrarpolitik manchen Landwirten große
Erfolge gebracht. Sie haben die Chancen der Marktwirtschaft
erkannt und Nischen entdeckt, etwa Spezialisierung auf Gemüsebau
oder Blumenkultur für den Export, u.a.m.. Der Masse war
so etwas nicht möglich, wobei der schlechte Ausbau der
Vermarktungsstrukturen eine wichtige Rolle spielte. Die Masse
der Kleinbetriebe - 1980 waren 82 % unter 10 ha groß
- arbeitete nicht viel anders als ich es 1964 gesehen habe.
Entsprechend ging auch der Anteil der Landwirtschaft am Sozialprodukt
schneller zurück als an der Arbeitskräftezahl.
Wir haben es also heute mit zwei Disparitäten zu tun
- einer regionalen zwischen modernen und rückständigen
Gebieten
- einer innerlandwirtschaftlichen zwischen fortschrittlichen
und rückständigen
Betrieben.
Beide behindern auch die industrielle Entwicklung: Arme
Menschen haben keine Kaufkraft und verringern die Absatzchancen
der Industrie. Es ist zu hoffen, daß das Südost-Anatolien-Projekt
wenigstens für eine Region eine Besserung des Lebensstandards
bringen wird, wobei die Agrarstrukturpolitik hier die Weichen
stellen wird.
Für das Land bleiben noch große Aufgaben, die
nun um so schwieriger werden, weil unterschiedliche Verhältnisse
von Region zu Region, oft innerhalb der Regionen unterschiedliche
Maßnahmen verlangen. Dabei macht die Differenzierung
der Lebensverhältnisse es schwer, die für wirksame
Maßnahmen erforderliche Zielgruppendefmition vorzunehmen.
Der Begriff 'Kleinbetrieb' reicht nicht mehr aus, weil sich
dahinter ganz unterschiedliche Verhältnisse und Bedürfnisse
verbergen können.
Fassen wir noch einmal die wesentlichen Kennzeichen des Industrialisierungsprozesses
der Türkei und seiner Auswirkungen auf die Landwirtschaft
zusammen:
- Vor Einsetzen der Industrialisierung hat es keine Landreform
und keine
allgemeine Entwicklung der Landgebiete gegeben, die die
Menschen
ausreichend an den Boden gebunden hätten
- Die staatliche Politik war stets auf Produktionssteigerungen
durch
Flächenausdehnung, z.T. auch auf Landkonzentration
ausgerichtet und hat
die Kleinbauern vernachlässigt
- Der Einsatz von Traktoren vor einem stärkeren biologisch-technischen
Fortschritt führte ebenfalls zu Landkonzentration,
Entlassung von Pächtern,
Ausscheiden von Kleinlandwirten, ohne Mehrarbeit durch
Anbauintensivierung zu bringen
- Die steigende Disparität im Lande führte zu
Abwanderung besonders der
jungen Menschen vom Lande, wegen der Konzentration der Industrie
in
wenige Großstädte und ins Ausland. Probleme des
Landes wurden auf die
Städte verlagert
- Die Diskrepanz zwischen Stadt und Land ist heute größer
denn je, und von
einer Integration der Landbevölkerung in die Gesamtgesellschaft
kann nicht
gesprochen werden.
Die skizzenhaften Ausführungen über die Anpassungsprozesse
der Landwirtschaft an die Industrialisierung haben gezeigt,
daß zwischen den beiden Ländern große Unterschiede
bestehen. Die Geschichte liefert eben keine Handlungsanweisungen
und Lösungsstrategien für die Gegenwart, schon gar
nicht anderen Ländern. Trotzdem sind die wenn-dann Erfahrungen,
sicher nützlich. Ich will jetzt aber keine Ratschläge
für die Türkei abgeben, denn dazu bin ich nicht
gefragt, und meine türkischen Kollegen sind da sicher
berufener.
Immerhin stehe ich voll hinter der Ansicht meines türkischen
Doktoranden Ufuk Yuzüncü in seiner Dissertation.
Er schreibt: Die zentrale Frage ist nicht mehr: was und
wieviel wird produziert,
sondern: wer, wie, für wen und zu welchen Bedingungen
wird produziert, um Polarisierung und Dualismus im Agrarsektor
und zu anderen Wirtschaftsbereichen zu verhindern.
Die Landwirtschaft im
Prozess zunehmender Industrialisierung
- Welche Faktoren haben die Anpassung in Deutschland und der
Türkei bestimmt?
Deutsch-Türkische Agrarforschung. Symposium Antalya 1997,
S. 5-12.
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