Die deutsche Landwirtschaft im Prozeß zunehmender
Industrialisierung
Für den Verlauf der Anpassung der Landwirtschaft an
die Industrialisierung war von entscheidender Bedeutung, daß
bereits im 18. Jahrhundert eine institutionelle Reform stattgefunden
hat, die sog. Bauernbefreiung. Sie brachte eine Ablösung
der Grundherrschaft und eine neue Eigentums- und Flurverfassung.
Die überwiegende Zahl der Betriebe war jetzt im Eigentum
der Bewirtschafterfamilien. Die Zahl der Großbetriebe
war verschwindend gering, und diese wurden fast immer zentral
bewirtschaftet. Allerdings waren manche der Familienbetriebe
zu klein, um eine Existenz zu bieten, und bedurften eines
Zuerwerbs.
Diese frühe Agrarreform hat Innovations- und Produktivkräfte
freigesetzt, die zusammen mit der Einfuhrung von verbesserter
Dreifelderwirtschaft, Mineraldüngung, weniger Brache
und technischen Neuerungen zu erheblichen Produktionssteigerungen
führte. Nahrungsproduktion und Sozialprodukt stiegen
stärker als das Bevölkerungswachstum. Dieses bewirkte
steigende Realeinkommen in der Landwirtschaft: Der Haushaltskonsum
bestand nicht mehr nur aus Nahrung und Kleidung, sondern erlaubte
auch differenziertere Wünsche und brachte damit Wächstumsimpulse
für andere Wirtschaftssektoren.
In diesem frühen Stadium war die Industrialisierung
in starkem Maß abhängig von der Landwirtschaft:
Von ihr ging die kaufkräftige Nachfrage aus, die zur
Entwicklung einer dezentralen Kleinindustrie führte.
Erst in einem 2. Schritt kam es dann zur Entstehung von Schwerindustrie,
um die Bedürfhisse der Kleinindustrie und des Staates
zu befriedigen.
Mit Fortschritt der Industrialisierung kam es zu einem Rückgang
der Bevölkerungszunahme. Zusätzlich wirkte das Engel'sehe
Gesetz, wonach bei steigenden Einkommen immer geringere Anteile
für Nahrung ausgegeben werden.
Insgesamt stieg während der Zeit der frühen Industrialisierung
die Nahrungsproduktion über die Nachfrage. Der langfristige
jährliche Produktionsanstieg betrug 3 %. Trotz dieses
Produktivitätsanstiegs schrumpfte die Landwirtschaft
in ihrem Anteil an der Gesamtwirtschaft, konnte aber doch
den Lebensstandard der Gesamtbevölkerung halten.
Nicht in allen, aber doch in erheblichen Teilen der BRD wird
Realteilung praktiziert, d.h. im Erbgang wird das Land unter
die Kinder aufgeteilt. Zwar folgen nicht alle Familien dieser
Regel, aber sie fuhrt doch dazu, daß die Betriebe immer
kleiner wurden und mehr und mehr Bewirtschafter einem Nebenerwerb
nachgehen mußten. Neben den dörflichen Dienstleistungen
gab auch die Industrie die nötigen Arbeitsplätze.
Dabei wirkte sich besonders günstig aus, daß sich
die entstehende Industrie in kleinen Einheiten und vielfach
in den Dörfern und kleinen zentralen Orten ansiedelte.
Damit waren außerlandwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten
in vom Dorf aus erreichbarer Nähe gegeben, eine Voraussetzung
für das Fortbestehen der Kleinstbetriebe. Entsprechend
kam es zu dieser Zeit auch kaum zu strukturellen Änderungen
in der Landwirtschaft.
Die großen Umwälzungen und der eigentliche Industrialisierungsprozeß
begann erst nach dem 2. Weltkrieg, besonders nach 1950. Es
kam in wenigen Jahren zu einem rasanten Industrieaufschwung,
und die expandierende Industrie hatte bald Schwierigkeiten,
die nötigen Arbeitskräfte zu finden.
Dem kräftigen 'Pull' zum Ausscheiden aus der Landwirtschaft
- es hat sich nicht um einen 'Push' gehandelt - mußte
die Landwirtschaft mit einem Anstieg der Arbeitsproduktivität
gegenübertreten. Dieser vollzog sich in drei Schritten
und brachte eine völlige Veränderung im Erscheinungsbild
der Landwirtschaft.
Der erste Schritt war die Durchdringung der Landwirtschaft
mit.den Möglichkeiten des biologisch-technischen Fortschritts,
insbesondere die Anwendung von Handelsdünger, verbessertem
Saatgut und Pflanzenschutzmitteln. Dies vollzog sich schnell,
denn fortschrittliche Betriebe hatten diese Dinge bereits
vor dem Krieg eingeführt, sie waren jetzt auf dem Markt,
die erforderliche Infrastruktur, die Genossenschaften für
die Verteilung sowie die Anleitung durch Beratungsdienst und
Winterschule waren flächendeckend vorhanden. Dieser Teil
des Fortschritts wirkte auf die Bodenproduktivität und
führte zu höheren Flächenerträgen.
Gestiegene Einnahmen ermöglichten beinahe zeitgleich,
auf den wegen der Abwanderung entstehenden Mangel an Arbeitskräften
zu reagieren. Der mechanisch-technische Fortschritt ersetzte
menschliche und tierische Kraft durch Traktoren und Maschinen.
Während 1950 noch 5,1 Millionen Arbeitskräfte in
der Landwirtschaft im Gebiet der alten BRD tätig waren,
ging diese Zahl bis 1970 auf 1,8 Millionen und bis 1995 auf
598.000 zurück. Im Jahre 1950 leisteten 2,5 Millionen
Zugtiere die Zugarbeit auf den Feldern, und bereits 20 Jahre
später waren diese verschwunden, während die Zahl
der Traktoren von 1950 bis 1970 von 100.000 auf 1,4 Millionen
anstieg. Parallel zur Umstellung der Feldarbeit auf Kraftmaschinen
vollzog sich eine Umstellung der Hof- und Stallarbeit auf
elektrische Energie.
Diese gewaltige Kapitalisierung brachte einen großen
Kostendruck durch Investitionen, laufende Kosten und Kapitaldienst
mit sich, denen die Landwirte durch Intensivierung und Expansion,
besonders der tierischen Produktion, zu entsprechen versuchte.
Hinzu kam eine förderliche Agrarpolitik mit hohen Erzeugerpreisen.
All dies reichte aber nicht, die Kosten zu decken. Als dritten
Schritt begann deshalb, der Einsatz organisatorisch-technischen
Fortschritts. Der Landwirt braucht ja keine Maschinen, sondern
Dienste von Maschinen, und dies erlaubt, durch entsprechende
Organisation den Kostendruck zu verringern. Die hohen Kosten
des Individualbesitzes könnten verringert werden durch
Verwendung von Maschinen von Lohnunternehmern, durch gemeinschaftlichen
Besitz oder durch Maschinenringe. Auch eine Spezialisierung
und Begrenzung der Zahl der Feldfrüchte bewirkte Kostenbegrenzung.
Diese organisatorischen Umstellungen sind keineswegs abgeschlossen
und gehen teils soweit, daß der Landwirt vor Computer
und Telefon sitzt und den Lohnunternehmern Anweisungen gibt,
selbst aber keine Maschinen und teils auch keine Tiere mehr
besitzt.
Alle Arten von Fortschritt bedeuten eine Ausgliederung von
Funktionen aus Betrieb und Landwirtschaft in vor- und nachgelagerte
Bereiche und damit eine Verstärkung der intersektoralen
Beziehungen. Dabei steigt die Verflechtung und Abhängigkeit
von außerbetrieblichen Diensten. Andererseits sind neben
wirtschaftlichen Vorteilen solche auf sozialem Gebiet von
Bedeutung, z.B. die Freisetzung der Hausfrau von Feldarbeit,
die Ermöglichung von Urlaub und der Rückgang der
Probleme bei Krankheit u.a.
Bezüglich der Produktion waren die Auswirkungen dieser
Umstellungen sehr groß. Die Bruttobodenproduktion stieg
von 46 Millionen Tonnen Getreideeinheiten in 1957 auf 77 Millionen
im Jahre 1989, und dies zu einer Zeit stagnierender Bevölkerung
und immer stärkerer Wirkung des Engeischen Gesetzes.
Die Produktion überstieg den Verbrauch.
Dies wurde noch verstärkt durch die Bemühungen
der Agrarpolitik, die Landwirtschaft beim Anpassungsprozeß
an fortschreitende Industrialisierung zu unterstützen.
Insbesondere wurde durch Maßnahmen der Regionalentwicklung
.der Abstand zwischen armen und wohlhabenden Gebieten in Deutschland
verringert und die landwirtschaftliche Bevölkerung in
das Netz der Sozialpolitik einbezogen. Neben Maßnahmen
zur Verbesserung der Agrarstruktur ist von besonderer Bedeutung
das 'Landwirtschaftsgesetz', welches den landwirtschaftlichen
Erwerbstätigen einen Vergleichslohn zum Industriearbeiter
sicherte und die Regierung verpflichtete, eine etwaige Differenz
auszugleichen. Im Bemühen, die Einkommen der Landwirtschaft
zu steigern, konzentrierte sie sich mehr und mehr auf produktionssteigera.de
Maßnahmen, insbesondere Preisstützungen. Dies geschah
weitgehend global, also ohne Berücksichtigung der innerlandwirtschaftlichen
Disparität, und dies zu einer Zeit stagnierender Nachfrage
und geringer Exportchancen wegen des hohen Preisniveaus. Ergebnis
waren hohe und steigende Überschüsse, die bei Entstehung,
Lagerung und subventioniertem Export riesige Summen verschlangen.
Erst in den letzten Jahren bahnt sich ein Umschwung von Preisstützungen
zu direktem Einkommenstransfer an, besonders auch im Zusammenhang
mit umweltschonenden Maßnahmen.
All diese Veränderungen der Landwirtschaft und Bemühungen
der Politik reichten nicht aus, um friktionslos die notwendige
Anpassung der Landwirtschaft in die Industrialisierung zu
ermöglichen. Vielmehr kam es zu erheblichen agrarstrukturellen
Veränderungen. Viele, besonders kleine Betriebe mußten
aufgeben: Während 1949 noch 1,55 Millionen Betriebe existierten,
waren 1995 nur noch 525.000 davon, mit entsprechend größerer
Betriebsfläche, übrig. In der Mehrzahl der Fälle
erfolgte die Aufgabe im Generationswechsel. Oft behielt man
die Landbewirtschaftung sogar im Nebenberuf bei. Dies brachte
Sicherheit, milderte den Generationenkonflikt über den
Boden, brachte den Jungen billige Bauplätze und Gewinne
durch die Landpreissteigerungen in vielen Gebieten. Gerade
der Übergang zur nebenberuflichen Landbewirtschaftung
milderte die Anpassungsfriktionen erheblich, vollzog sich
der Wandel doch bei fortbestehenden sozialen Kontakten und
Institutionen. Dies war möglich infolge der starken Dezentralisierung
der Industrie in vielen Regionen: Arbeitsplätze waren
in der Nähe zu finden. Im Laufe der Zeit wurde dann mehr
und mehr Land abgegeben, aber meist als Pacht. Die Pachtfläche
stieg von 22 % in 1966 auf 43 % in 1990, überwiegend
Parzellenpacht.
Schwieriger wurde die Umstellung erst nach 1980, als wegen
der hohen Überschüsse die Preise zurückgingen,
gleichzeitig aber die Arbeitskräftenachfrage der Industrie
geringer wurde. Es gab jetzt wenig neue Arbeitsplätze,
und besonders für ungelernte Kräfte hatte die Industrie
wenig Verwendung. Dabei ging der Schrumpfungsprozeß
der Landwirtschaft weiter. Immerhin ist das Meiste überstanden.
Im Jahre 1995 waren nur noch 216.000 Vollerwerbsbetriebe vorhanden.
Für die Verbleibenden haben sich die Funktionen der
Landwirtschaft geändert. Neben der Nahrungsproduktion
kommt heute der Erhaltung der Kulturlandschaft, der Pflege
natürlicher Ressourcen und der Bewahrung der Umwelt sowie
der Praktizierung artgerechter Tierhaltung, eine Aufgabe mit
zunehmender Bedeutung zu, die von der Gesamtgesellschaft zu
honorieren ist. Schließlich ist unser kulturelles Erbe
nicht nur, aber gerade auch ein bäuerliches Erbe und
in der Hand der Landwirte am besten aufbewahrt.
Anpassung an sich ändernde wirtschaftliche und gesellschaftliche
Verhältnisse ist ein stetiger fortlaufender Prozeß
und wird daher weitergehen. Die Anpassung der Landwirtschaft
an fortschreitende Industrialisierung ist insgesamt verkraftet
worden. Sie hat dazu geführt, daß ein geringer
Anteil der Bevölkerung - weniger als 3 % - ausreichend
Nahrung für die Gesamtbevölkerung erzeugen kann,
dabei ein angemessenes Einkommen verdient und auch in die
Gesamtgesellschaft weitgehend integriert ist.
In vielen Einzelfällen ist der Vorgang mit Friktionen
einhergegangen und hat großes Leid für die Betroffenen
gebracht. Auch politisch sind erhebliche Fehler gemacht worden.
Betriebe wurden an den Ortsrand ausgesiedelt, die nach wenigen
Jahren nicht mehr lebensfähig waren. Die hohe fehlgeleiteten
Subventionen konnten zu einer Zeit stark wachsender Wirtschaft
zwar bezahlt werden, stellten aber doch eine große Verschwendung
dar. Politische Entscheidungen richten sich nicht nach dem
in der Retrospektive sinnvoll Erscheinenden, sondern nach
politischem Kalkül.
Lassen Sie mich die wichtigsten Eigenarten und Bestimmungsgründe
für die deutschen Anpassungsprozesse der Landwirtschaft
noch einmal zusammenfassen:
- Eine Agrarreform vor Beginn der Industrialisierung bewirkte
Bodenverbundenheit und öffnete Initiativkräfte
bei den Bauern
- Die Industrialisierung verlief anfangs recht langsam,
regte die
Landwirtschaft zu Mehrproduktion an und erhöhte das
Agrareinkommen,
was sich wiederum in Kaufkraft und Nachfrage für die
Konsumgüterindustrie auswirkte
- Eine beschleunigte Industrialisierung nach dem 2. Weltkrieg
führte zu
starkem Sog nach Arbeitskräften aus der Landwirtschaft,
nicht zu einem
Herausdrängen von Kräften
- Wegen der dezentralen Struktur der Industrie konnten
die Abwandernden in
der Nähe der Dörfer Arbeit finden, blieben also
auf dem Dorfe wohnen und
behielten oft ihre Kleinlandwirtschaft als Nebenerwerbsbetrieb
für eine
Reihe von Jahren bei "
- Der große nichtlandwirtschaftliche Sektor konnte
in Zeiten hoher
Einkommenszuwächse sich leisten, den kleinen landwirtschaftlichen
Sektor
zu subventionieren
Der Ersatz der Abwandernden landwirtschaftlichen Arbeitskräfte
wurde durch technischen Fortschritt vollzogen, wozu die notwendigen
Voraussetzungen in Form von Produktionsstätten für
Maschinen und Betriebsmittel, flächendeckender Beratung
und Ausbildung für junge Landwirte und gutem allgemeinen
Bildungsstand eine solide Grundlage bildeten
Seit etwa 1980 ist der Berufswechsel wegen der nachlassenden
und andersartigen Arbeitskräftenachfrage der Industrie
mehr 'Push' als 'Pull', allerdings für erheblich geringere
Personenzahlen
Der begrenzten Zahl übrig gebliebener Betriebe kommen
neue Funktionen zu: Neben der Nahrungsproduktion wird die
Pflege der Kulturlandschaft, der Umweltschutz und die Betonung
der Qualität der Nahrungsproduktion für die Gesellschaft
immer wichtiger.
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